Über Transformation, Verletzlichkeit und das Fliegen

Die Sonne stand hoch am Himmel und die Luft vibrierte leise vom Summen der Insekten. Ich saß an meinem Lieblingsplatz hier in Slowenien, hoch oben auf einem Felsen mit Blick auf den Gebirgsbach, und genoss die warme Sonne auf meiner Haut. Einen Augenblick lang schloss ich die Augen, lauschte dem Rauschen des Wassers und den Geräuschen der Natur.

Plötzlich spürte ich ein Kitzeln auf meiner Hand. Ich öffnete die Augen und sah ihn: einen blauen Schmetterling, zart und wunderschön. Für einen Moment blieb er einfach da und es wirkte auf mich, als würde er mich anschauen. Dann flatterte er davon, einmal um mich herum, nur um kurz darauf wieder zurückzukehren. Immer wieder setzte er sich auf meine Hand, manchmal für Sekunden, manchmal für Minuten. Er lief über meinen Arm, bewegte die Flügel, ruhte – und flog erneut davon. Über zwanzig Minuten ging dieses Spiel so, es war wie ein leiser Tanz zwischen uns.

Sein Gewicht war kaum zu spüren, und doch fühlte ich jede seiner Bewegungen. Ich war fasziniert und konnte nicht anders, als ihn zu beobachten. Da entdeckte ich die Spuren seines Lebens: zerfranste Flügel, gezeichnet von Wetter, Wind oder vielleicht Kämpfen. Und doch – er flog. Unermüdlich, leicht, unbeirrt, selbst gegen den Wind dort oben auf dem Felsen.

Dieses Erlebnis hatte ich in der letzten Woche, Mitte August. Und ich fragte mich: Warum kam dieser Schmetterling gerade an diesem Tag zu mir? Warum setzte er sich immer wieder auf meine Hand? Welche Botschaft hat er für mich?
Vielleicht wollte er mir etwas zeigen …

Fliegen – auch mit zerfransten Flügeln

Ganz ehrlich: Als ich im ersten Moment die kaputten, zerfransten Flügel sah, tat mir das im Herzen weh. Ich spürte einen Schmerz, denn irgendwie war mir sofort klar, was dieser Schmetterling schon alles erlebt haben musste. Und ebenso wusste ich, dass seine Flügel natürlich seine „Lebensversicherung“ waren. Wenn er irgendwann nicht mehr fliegen könnte, hätte er keine Chance mehr zu überleben. Ich spürte in mir Leid und Traurigkeit aufsteigen.

Aber er flog. Und während ich ihn dabei beobachtete, stellte ich fest: Es schien ihn überhaupt nicht zu stören, dass von seinen Flügeln ein Stückchen fehlte. Auch mit diesen unvollständigen, „kaputten“ Flügeln, flog er herum.

Das hat mich tief berührt. Es hat mich gewissermaßen auch aufgeweckt.
Denn wie oft fühlen wir Menschen uns doch blockiert oder nicht mehr in der Lage, etwas zu tun, wenn wir verletzt sind. Das muss gar nicht immer eine körperliche Verletzung sein, es ist bei emotional-seelischen Verletzungen ja genauso. Den Satz „Ich kann das nicht mehr“ höre ich so oft, wenn ich mit Menschen spreche. Wir verschließen uns, verstecken die Verletzungen und bleiben stehen.

Dieser Schmetterling hat mir aber gezeigt: Fliegen – also seine Fähigkeit, seine Gabe, sein Talent – ist immer möglich. Auch mit sichtbaren Spuren des Lebens. Der Schmetterling macht es einfach, ohne die Dinge zu zerdenken und sich den Kopf zu zerbrechen, ob es noch geht oder wie es gehen könnte.
Er tut es.

Das Leben in der Hand

Der Schmetterling kam nicht einmal zufällig vorbei.
Nein, eine ganze Weile lang kam er immer wieder zu mir geflogen. Er setzte sich wieder und wieder auf meine Hände, mal auf die eine, dann auf die andere. Es war eine magische Begegnung.

Ich habe ihn als Lehrer empfunden. Er wollte mir etwas zeigen, mich etwas lehren. Ein stiller Lehrer des Lebens, der da ist, aber nicht die Führung übernimmt. Der mir nicht etwas eintrichtert, sondern mich auf einer anderen Ebene erkennen lässt.

Er hatte scheinbar ein tiefes Vertrauen, dass ich nichts mit ihm machen würde, was ihm schaden könnte. Denn der Schmetterling, dieses zarte Wesen, kam mir so nah wie nie zuvor. Ich hatte plötzlich das Leben in all seinen Facetten in meiner Hand: den zarten und feinen Körper, seine sanften Bewegungen als Zeichen der Lebendigkeit, aber auch die rohen Verletzungen an seinen Flügeln.
Ja, ich hatte auf einmal das Leben selbst in der Hand.

Es waren immer wieder meine Hände, auf die der Schmetterling sich setzte. Nicht meine Beine, nicht meine Kleidung.
Die Hände sind eine Brücke zwischen dem Innen und dem Außen, direkt verbunden mit dem Herzen. Mit ihnen empfangen wir und geben wir. Wir erschaffen mit den Händen, halten mit ihnen fest und lassen auch wieder los. Mit unseren Händen be-greifen wir die Welt, wir erspüren sie, und wir formen sie.

Die Hände sind direkt mit dem Herzen verbunden, sie sind eine Verlängerung des Herzens. Vielleicht war es also kein Zufall, dass er immer wieder genau dort landete – mitten in meiner Herzenergie. Hatte er sich diesen Ort ausgesucht, um mir seine Botschaft direkt ins Herz zu schicken und von mir Liebe zu empfangen?

Schmetterling auf dem Arm

Der Schmetterling, der immer wieder auf meine Hände geflogen ist. Seine Flügel waren schon sehr ausgefranst.

Der Schmetterling – Sinnbild der Transformation

Für mich hatte diese Begegnung mit dem Schmetterling aber noch eine weitere Dimension. Denn meine Jahreskarte für dieses Jahr ist: Der Schmetterling.

Der Schmetterling steht für Transformation, Verwandlung und Neubeginn. Als Raupe beginnt er zu leben. Er lebt im Erdreich, wirkt eher schwerfällig und ist viel mit Fressen beschäftigt. Dann verpuppt er sich im Kokon, zieht sich also ganz allein zurück, löst seine alten Strukturen vollkommen auf und wird zur Raupensuppe. Und schließlich kommt er als wunderschöner Schmetterling aus dieser Verwandlung hervor. Vollkommen frei und voller Leichtigkeit fliegt er nun durch das Leben.

Der Schmetterling ist das Sinnbild der Transformation – aber selbst in dieser „vollendeten“ Form ist er nicht unversehrt. Denn meinem Schmetterling fehlten Teile von den Flügeln. Die Spuren des Lebens waren sichtbar. Und trotzdem lebt er das, wofür er da ist: Fliegen.

Mir hat es etwas gezeigt, das ich tief in mir schon lange spüre: Veränderung bedeutet nicht Perfektion. Und: Transformation und Verletzlichkeit gehören zusammen.
Durch eine tiefgreifende Veränderung wird man verletzlicher, zarter, empfindsamer. Aber gerade dadurch berührt man andere. Und trotz der Verletzlichkeit – oder gerade deswegen? – ist Fliegen möglich.
Die Aufgabe des Schmetterlings ist zu Fliegen. Auch mit beschädigten Flügeln bleibt er ein Schmetterling und fliegt weiter.

Das heißt für mich: Auch wenn wir uns verändern und eine Transformation durchleben, bleiben Wunden, Brüche und Verluste sichtbar. Manchmal kommen sie sogar erst dadurch an die Oberfläche, weil die Verletzlichkeit und Zartheit ihnen einen Platz gibt.
Die Narben sind ein Teil unseres Lebens. Sie machen die neue Form nicht weniger wertvoll. Ganz im Gegenteil: sie verleihen ihr Tiefe und Einzigartigkeit.

Genau dort kam in mir die Frage auf: Was ist das, wofür ich fliege – egal, wie zerfleddert meine Flügel auch sein mögen?

So wie der Schmetterling fliegt, weil es seine Natur ist, so tragen auch wir eine Bestimmung in uns. Denn jeder von uns hat etwas, das ihn ausmacht – eine Gabe, die auch mit Narben bestehen bleibt.

Also: Welche Aufgabe ist meine? Was ist das, was ich immer tun „muss“ – auch wenn ich dadurch vielleicht verletzlich bin?

Die Botschaft für mein Herz

Dieser zauberhafte Moment mit dem Schmetterling hat mir vieles gezeigt. Jede Veränderung führt zu neuen Flügeln, mit denen ich – auch wenn sie nicht makellos sind – fliegen kann. Transformation bedeutet nicht, dass man „heile“ aus allem hervorgeht, sondern dass man trotzdem oder gerade deswegen das eigene Wesen leben kann.

Vertrauen ins Leben zu haben:
Egal, was das Leben mir bringt, wenn ich mein Herz öffne, mich verletzlich zeige und mich nicht an meinen scheinbaren Fehlern aufhalte, ist das Leben immer da.

Wachstum und Verletzlichkeit gehören zusammen:
Verletzungen gehören zum Leben hier auf der Erde dazu. Auch wenn ich das vielleicht nicht schön finde und Schmerz am liebsten vermeiden würde, es ist ein Teil dieses Lebens. Und dennoch kann ich mich immer wieder neu entscheiden, wie ich auf meine Verletzungen schaue. Lasse ich mich davon festhalten oder fliege ich trotzdem weiter?

Nähe zulassen:
Manchmal braucht es eine vertrauensvolle Nähe, um zu heilen, zu erkennen und gehalten zu werden. Es geht darum, sich für andere zu öffnen, aber auch die eigene innere Welt für andere zu öffnen – immer in dem Rahmen, wo man Vertrauen und Liebe spürt und sich sicher fühlt.

Ein leiser Abschied – und was bleibt?

Irgendwann war für mich die Zeit gekommen, vom Felsen aufzubrechen.
Schweren Herzens stand ich auf, und der Schmetterling flatterte noch einmal um mich herum – fast so, als wolle er mich ein Stück begleiten. Leicht und frei folgte er mir den Pfad hinunter, bis der Wald dichter wurde und er schließlich zurückblieb.

Ich ging weiter, doch die Begegnung blieb bei mir.
Seine zerfransten Flügel, seine Zartheit, sein Vertrauen – all das hallte in mir nach. Während er in der Weite verschwand, spürte ich: Die eigentliche Reise des Schmetterlings ging in mir weiter. Wie der Schmetterling mich eine Weile begleitet hatte, so begleitet mich nun seine Botschaft.

Er erinnert mich daran:
Es kommt nicht darauf an, heil und vollkommen zu wirken. Es geht darum, mit offenem Herzen den eigenen Weg zu gehen und die eigenen Gaben zu teilen – mit den Spuren, die das Leben hinterlassen hat.

Also: Wie kannst du mit den Spuren deines Lebens losfliegen?

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