Ein Plädoyer für das Unangepasste und die kleinen Wunder, die uns im Alltag begegnen

Ich stehe vor der Gemüseabteilung im Geschäft. Vor mir die Kisten mit Gurken, Tomaten, Paprika, Radieschen. Alles liegt brav nebeneinander, hat die richtige Form und sieht aus wie der Nachbar.

Mein Blick gleitet über die Kisten, immer auf der Suche.


Und da – gefunden!

Diese eine Möhre.
Verdreht, verknubbelt, fast ein bisschen trotzig liegt sie zwischen ihren geraden Kollegen. Ich greife, ohne nachzudenken, lächelnd zu. Wie immer.


Mein Blick wandert weiter, vielleicht finde ich ja noch mehr von diesen kleinen Rebellen. Je krummer und andersartiger, desto besser.

Unwillkürlich muss ich lächeln. Ich freue mich schon auf das Gesicht, wenn ich meinen Fund wieder meinem Mann zeige.
Ich weiß nicht genau, warum – aber dieses besondere Gemüse und Obst fühlt sich warm und vertraut an. Lebendig.

Was krummes Gemüse mit Wundern im Alltag zu tun hat

Solche Momente sind für mich keine Ausnahme, sondern fast schon ein kleines Ritual. Meine Freunde und Familie wissen längst: Ich liebe es, wenn mir besonders außergewöhnliche Lebensmittel in die Hände fallen. Ob winzig, riesig, krumm, spiralförmig oder in der „falschen“ Farbe, diese Naturwunder bringen mich jedes Mal zum Staunen.

Und gleichzeitig irritiert mich etwas anderes: Egal wo ich einkaufen gehe, welche Jahreszeit ist – alles sieht gleich aus. Einheitlich. Standardisiert.
Wie kann das sein? Ist da nicht etwas verkehrt?

Wer selbst schon einmal eine Gemüsepflanze hatte, weiß: Kaum etwas, was im eigenen Garten wächst, sieht so perfekt aus wie im Supermarkt. Die Natur orientiert sich nicht daran, was wir Menschen gut finden.
Doch warum meinen wir überhaupt, dass alles gleich aussehen muss?

Eine krumme Gurke bringt mich unweigerlich zum Lächeln. Sie hebt sich hervor und zeigt: Ich bin anders. Ich bin echt.
Sie ist vielleicht aus Sicht von einem Menschen, der eine gerade Gurke erwartet, nicht perfekt. Aber aus Sicht der Gurke ist sie vollkommen.

Und sie zeigt uns: Es zählt nicht nur, gerade und scheinbar perfekt zu sein. Es geht nicht darum, angepasst zu sein. Denn diese außergewöhnliche Gurke ist genauso wertvoll wie all die anderen. Sie nährt und sättigt uns. Und sie inspiriert.
Denn wie oft versuchen wir, gerade, angepasst und scheinbar perfekt zu sein und verlieren dabei vielleicht das Besondere, das nur wir haben?

Wie uns die Natur lehrt, Unperfektes zu lieben

Es ist nicht nur das Obst und Gemüse. Auch ein Brot, das wild aufgeplatzt ist oder eine krumm gewachsene Blume berühren mich auf ähnliche Weise.
Und ja, auch (besondere) Menschen tun das. In meiner Zeit als Logopädin mit schwerstbetroffenen Kindern habe ich das täglich erlebt. Das, was für unsereins vollkommen „normal“ war, passte kaum in diese Welt. Doch gerade dort habe ich so viel Echtheit, Tiefe und Zauber gespürt.

In der Natur gibt es keine Normen, die vorgeben, wie ein Blatt, eine Frucht, ein Wesen auszusehen hat, um als solches anerkannt zu werden. Es gibt keine Geradlinigkeit. Und dennoch ist alles stimmig. Alles hat seinen Sinn und Zweck.

Es macht mich sprachlos und traurig, dass wir Menschen irgendwann begonnen haben, unsere Lebensmittel in Kategorien einzusortieren. Zu entscheiden, was gut ist und verkauft werden kann. Und was nicht verkauft werden darf.
Woher nehmen wir uns das Recht, eine solche Entscheidung zu treffen – und dann auch nur aufgrund des äußerlichen Aussehens?

Vielleicht habe ich deswegen eine besondere Leidenschaft für das, was sonst unsichtbar verschwindet. Indem ich bewusst diese „besonderen“ Lebensmittel auswähle, verbinde ich mich beim Kochen noch viel mehr mit dem Leben selbst. Ich erkenne die Vielfalt im Gleichen. Ich sehe die Wildheit und die Einzigartigkeit von allem.

Das krumme Gemüse ist für mich ein Spiegel.
Für das Leben.
Und auch für die Menschlichkeit.
Und es erinnert mich: Auch ich darf natürlich sein.  Ich darf mich zeigen, so wie ich bin. Möglicherweise bringe ich auch jemanden zum Schmunzeln. Oder ich inspiriere jemanden. Einfach nur, weil ich ich bin. Ohne mich anzupassen.

Und da gibt es noch etwas: Ich erlaube die Einzigartigkeit nicht nur, ich feiere sie sogar.
Ein Punkt, der mich persönlich sehr berührt. Weil ich selbst so lange versucht habe, angepasst zu sein. Unauffällig. Richtig.
Und dabei habe ich übersehen, dass das, was in mir gewachsen ist und vielleicht ganz anders ist, genau das ist, was mich ausmacht.

Erdbeere in Form einer Hand liegt auf einer Hand

Wunder im Alltag entdecken – in der Küche

Es gibt so viele kleine Wunder im Alltag, die wir übersehen.
Und noch schlimmer: Wir Menschen filtern diese Wunder raus aus dem Leben, noch bevor wir sie überhaupt sehen können.
Denn es landen ja nur noch angepasstes Gemüse, Obst, Brot und andere Lebensmittel im Verkauf. Wer nicht die Chance hat, Gemüse direkt vom Bauernhof oder auf dem Markt zu kaufen, Obst auf der Streuobstwiese zu ernten, oder ein eigenes Beet zu haben, der hat vielleicht nicht so viele Chancen auf kleine Wunder.

Ich bin immer auf der Suche nach den kleinen und großen Rebellen.
Denn sie sind für mich Einladungen: innezuhalten, zu staunen und das Herz zu öffnen. Und manchmal lösen sie unerwartet einen richtigen Kreativschub aus. Dann fange ich an, mit dem Gemüse zu spielen, daran herumzuschnitzen und es zum Leben zu erwecken. Dann kommt die kleine Johanna durch … 😉

Warum das Leben mehr krumme Gurken braucht

Ich bin überzeugt davon, dass wir im Alltag mit all den kleinen und großen Wundern so viel über das Leben lernen können.
Und so wie das Gemüse keinen Hochglanz braucht, brauchen auch wir Menschen keine Perfektion, um zu nähren, zu berühren, zu sein.

Vielleicht sind es gerade unsere Ecken, Kanten, und Besonderheiten, die uns liebenswert machen. Das krumme Gemüse und Obst kann uns genau daran erinnern: Dass wir nicht glatt und gleich sein müssen, um richtig zu sein. Dass das Leben in seiner Vielfalt am schönsten ist. Und dass Wunder oft genau dort zu finden sind, wo wir niemals hingeschaut hätten.

Vielleicht wartet das nächste kleine Wunder genau dort, wo du es nicht erwartet hast – in einer krummen Karotte, in einem schiefen Lächeln oder in dir.

Hast du auch schon mal einem krummen Gemüse ein Lächeln geschenkt?

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